Enttäuschend und nervend
von unserer HEYN Belletristikabteilung , 30. November -1
Unsere Miriam Dörflinger hat es gelesen und es hat ihr so wenig gefallen, dass Sie eine beeindruckende Kritik verfasst hat: "Ein wenig Leben ist für mich DER Roman des Jahres 2017, bei dem mir der Geduldsfaden endgültig riss für Bücher, die gepushed, übertrieben angepriesen und mit einer Marketing-Strategie beworben werden, die ihresgleichen sucht.
Ich möchte nicht abstreiten, dass dieser Roman Leser finden wird, die an der Geschichte Gefallen finden werden und ich möchte hervorheben, wie großartig die Übersetzung offensichtlich gelungen ist, denn schriftstellerisch darf man Frau Yanagihara nichts Negatives nachsagen.
ABER - was für eine übertriebene, teilweise nervtötende Geschichte! Nachdem man sich 500 Seiten lang durch die langweiligen Leben der Freunde gelesen hat (von denen alle, oh Wunder, überdurchschnittlich erfolgreiche Männer werden), kommt man endlich zum Kernstück: Die Leidensgeschichte von Jude St. Francis. Und diese ist wirklich schrecklich, ja teilweise unfassbar grausam, und so detailreich geschildert, dass man der Autorin doch fast einen Voyeurismus, eine perverse Ader, unterstellen möchte. Hat man nun auch dies hinter sich gelassen, wird der Überlebenskampf von Jude St. Francis geschildert. 200 Seiten lang, immer wieder Ritzereien, Selbstmordversuch und darauffolgendes, nahezu kitschiges Idyll, dass die Liebe doch alles besiegen kann. Jude wird überwacht - immer scheinen alle zusammenzuarbeiten, ihn zu beobachten, immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. In diesem Roman schenkt man sich Safari-Reisen zum Jahrestag, baut man sich nebenbei einfach mal ein Haus, weil man die Kohle hat, gibt zu jedem Anlass ausschweifende Dinner, belegt einen Kurs im Aktzeichnen (weil es einfach so herrlich kitschig und plakativ und stereotyp und klischeehaft ist). Und egal welche Figur in diesem Roman - ob Haupt- oder Nebenfigur - alle sind sie erfolgreich! Alle schlafen sie mit Frauen und Männern, weil es einfach so ist (weil es cool ist, weil es in ist, weil es so New York City Style ist). Da wird einer erfolgreich, weil er in regelmäßigen Abständen Ausstellungen über Fotografien und Malereien gibt, wo er nur seine Freunde zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten darstellt. Der bekommt Auszeichnungen dafür! Da wird ein anderer erfolgreich, weil er einfach Glück hatte und die Rolle seines Lebens bekommt. Da wir wieder einer erfolgreich, einfach weil er es ist. Bitte, Frau Yanagihara, haben Sie auch Normalos unter ihren Bekannten? Kennen Sie Menschen, die sich von Monat zu Monat kämpfen, sich kaum was zur Seite legen können und trotzdem auch glücklich sind?
Der Geduldsfaden mit Jude und seinen Kumpanen (es tut mir leid, Jude - nein, es tut mir leid, Willem, oh JB - es tut mir leid und Harold, es tut mir auch leid und überhaupt, oh, es tut mir leid!) riss mir dann endgültig auf Seite 884: "[...] wo er früher Felix unterrichtet hat, Felix, der jetzt unglaublicherweise dreiunddreißig Jahre alt ist und nicht mehr in einer Punkband singt, sonder, was noch unglaublicher ist, als Hedgefondsmanager in die Fußstapfen seines Vaters getreten ist." Klar. Logisch. Denn individuelle Lebenskünstler gibt es in diesem Roman nicht, nein - es gibt Kohle, noch und nöcher und Figuren, die oberflächlich bleiben, wie ihre Jobs und ihre Umgebungen - kaum ein Charakter hat mich wirklich berührt (am ehesten noch Harold, von dessen Perspektive aus auch die letzten Seiten des Romans erzählt werden und die auch tatsächlich richtig gut sind!), ist mir nahe gekommen. Alle blieben mir so fremd, so überzogen, so überdurchschnittlich elitär - wäre nicht die Leidensgeschichte von Jude, würde man fast glauben, in der Welt von Frau Yanagihara gibt es nur Glück, Geld und Wohlstand. ...
Alles in allem ist dieses Buch zum ersten Mal es wert, von mir als "Hassbuch" bezeichnet zu werden - eben weil die Presse (zumindest die Rezensionen, die abgedruckt werden) es so dermaßen hochlobt und ich der Geschichte aber nichts, wirklich rein gar nichts, abgewinnen kann, wo ich verstehen könnte, warum es einen Yanagihara-Hype gibt, warum man Jude, Willem, Malcolm und JB in sein Herz schließt (nein, werde ich bestimmt nicht - mit solchen Menschen werde ich wahrscheinlich und hoffentlich nie in meinem Leben etwas zu tun haben ...). Es ist ein Roman, ja, und genau deshalb sollte ich mich vielleicht nicht so dermaßen darüber aufregen, es ist eine erfundene Geschichte (ein Märchen, ein Epos, wie es im Klappentext heißt), aber es stört mich schlichtweg, dass nichts dahinter ist ... ich habe mich nur geärgert, war ständig genervt von der Übertriebenheit der Charaktere und konnte nichtmal Jude bemitleiden, bei allem was ihm widerfahren ist, einfach weil es ... ja, mir fern ist - nicht das Thema Missbrauch, verstehen Sie mich nicht falsch - sondern die Charaktere an sich und ihre Lebenswelt. Es ist mir fremd und es wird mir fremd bleiben. Ich kann für dieses Buch nicht brennen, da ich es mühsam fand. Hätte die Geschichte 400 Seiten weniger und dafür ausgereiftere Charakterschilderungen (vor allem von Judes Freunden), Lebenswelten, die dem Leser nicht so fremd sein würden, hätte es mich vielleicht angesteckt, das Yanagihara-Fieber. Doch so bleibe ich enttäuscht und genervt zurück …"