Eine Meisterleistung perspektivischen Erzählens!
von HEYN Leserunde Petra Hesse, 30. Juli 2014
Die Schilderung langsam fortschreitender Demenz braucht einen nicht erst in ihren Bann zu ziehen ? außer dem Bewusstsein der Heldin Anna gibt es in dem Roman nichts, das Orientierung ermöglichen würde, und so können wir lesend gar nicht anders, als das 'Zerfallen der Zeit' mit Anna zu durchleben. Am Ende ist es Gott auf seinen weißen Socken, der eine Versöhnung im Lächeln bringt. Eine Meisterleistung perspektivischen Erzählens!
Aussensicht der Innensicht
12. Juni 2014
Dieses wunderschöne Buch über das Vergessen im Autobus zu vergessen ist schade und bedauerlich. Bedauern über das Vergessen. Listen schreiben, um nicht bedauern zu müssen, nicht zu vergessen. Das Büchlein mit den Listen vergessen. Namen vergessen. Adressen vergessen. Was haben ein Wal und eine Finnin gemeinsam? Sie haben fast vergessen, wo sie zu Hause sind und irren durch London. Dort gehören aber weder der Wal noch Anna wirklich hin. Selja Ahava beschreibt in wunderschöner Sprache und berührenden Bildern die Geschichte von Anna, einer Finnin, die nach dem Schock über den Verlust des geliebten Mannes langsam ihr Gedächtnis verliert. Unaufhaltsam, traurig, verwirrend und doch letztendlich eigenartig rührend-schön und fast friedlich am Ende. Wie kann man als Aussenstehende wissen, was im Inneren von jemandem wirklich vorgeht, wie von aussen beschreiben wie es sich innen anfühlt, den Verstand zu verlieren?
Allmaehliches Vergessen ohne Schrecken
von HEYN Leserunde Renate Pfeiffer, 11. Juni 2014
Eine wunderbar poetische Studie über das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit: Anna wird älter und gleitet nach und nach in eine Welt der Phantasie und der Vergangenheit, in ihrem Gedächtnis fehlen zuerst kleine, und dann immer größere Teile. Früher musste sie nach ein, zwei Worten suchen, heute kommen ihr ganze Gedanken abhanden, sagt sie, aber sie hat ihre Erinnerungen , und die bleiben.
Es ist ein Buch, bei dem man sich anfangs konzentrieren muss, damit man nicht selbst den Boden unter den Füßen verliert. Man kann sich vorstellen, wie es sein muss, wenn einem nach und nach die Dinge entgleiten und die Träume wichtiger werden. Aber allmählich lässt man sich auch als Leserin ein auf die Träume. Warum muss man immer wissen, was wirklich geschieht, warum soll man die Vernunft in den Vordergrund stellen, wenn die Phantasie so wirklich scheint? Es hat etwas von einem Zurückgleiten in die Welt von Kindern, wichtig ist, was ich jetzt sehe, was mir jetzt durch den Kopf geht. Und die unangenehmen Dinge, den Unmut der Umgebung, den Brand in der Wohnung, kann ich einfach ausblenden.
Und Anna vermittelt durchaus auch einen Eindruck von großer Stärke: sie weiß, dass nicht alles so ist, wie es ihr scheint, aber sie lässt sich nicht beirren. Sie geht ihren Weg, auch wenn er sie tagelang durch London führt und sie in die Irre geht, wie der Wal, der die Themse aufwärts in den sicheren Tod schwimmt. Die Zeit war Anna zwischen den Händen zerfallen, heißt es im Text, aber am Ende findet sie doch zurück auf die Insel im heimatlichen Finnland. Und man schließt das Buch und denkt, auch das Versinken im Alter und in der Demenz kann seinen Schrecken verlieren. Ein großartiger Roman, geschrieben mit dem leisen Humor, den ich an Büchern aus dem Norden Europas sehr schätze.
'Eksyneen muistikirja', der finnische Titel heißt übersetzt 'das verlorene Notizbuch' - trifft es besser, ist aber nicht so griffig wie 'DerTag, an dem ein Wal durch London schwamm' - aber was ist schon griffig am allmählichen Eintauchen im Nebel des Vergessens?
Sachen, Stunden und Woerter verlieren
von HEYN Leserunde Barbara Lichtenegger, 10. Juni 2014
Selja Ahavas Roman "Der Tag an dem ein Wal durch London schwamm" hat mich sehr berührt.
Anna, die be-merkens-werte Protagonistin der Geschichte, verliert langsam, unspektakulär und undramatisch Sachen, Stunden, Wörter, ihre Erinnerungen, ihre bewusste Wahrnehmung und - und das bleibt offen - am Ende auch ihr Leben?
In wechselnden Erzählzeiten ver-rücken mir beim Lesen nicht nur die Lebensstationen von Anna. Auch Annas eigene Wahrnehmung ver-rückt sich zunehmend.
Durch geschickte Rückblenden und den damit erzeugten Zeitenwandel entsteht eine beeindruckende Langsamkeit, mit der sich in sorgsamer und bildhafter Sprache Annas Geschichte ent-wickelt, mich er-greift und be-trifft.
Annas Humor und ihre Fantasie bewahren mich davor, dem entstehenden dumpfen Gefühl der beschriebenen Vergessensempfindungen zu viel Platz einzuräumen, und es wirkt auf mich tröstlich und sympathisch, dass letztlich ein "lieber" Gott in weißen Socken Anna auf ihre Insel (zurück) begleitet, wo sie ihre Sehnsucht stillen und in Zufriedenheit sein und gehen kann.
Die Zeit zerfaellt zwischen den Haenden!
von HEYN Leserunde Dagmar Pfleger, 10. Juni 2014
Sätze sind wie Kohlestriche - Augenblicke einfrieren - zwischen zwei Welten steckenbleiben. Auf sehr ansprechende Weise und in einer mit vielen Synonymen angereicherten Sprache taucht man in die Erlebniswelt von Alzheimer betroffenen Menschen ein, wird konfrontiert mit und in der Folge auch ergriffen von deren Eigenheiten. Wenn man das Buch durchliest, dazwischen nicht weglegt und den etwas verwirrenden Beginn somit überwindet, kann man den "Knoten im Kopf" richtig spüren. Der Autorin gelingt es gut, den Kern des Themas herauszuarbeiten und den Weg "back to the roots", zurück in das Leben der Vergangenheit und Phantasie. Ein durchaus zufrieden stellendes Leseerlebnis!
Gefaehrlich Gut
von HEYN Leserunde Ewa Wiercinska, 10. Juni 2014
Selja Ahava erzählt, wie zuerst die Worte, dann die Gedanken verschwinden, nur mehr Erinnerungen bleiben und das Gedächtnis zu einer Flickendecke wird. Die Sprache ist wie ein Gewitter mit Blitz und Donner, wirkt beängstigend und faszinierend zugleich. Schon seit jeher versetzt so ein Sprachgewitter den Leser ins Staunen. Der sehnt sich nach dem Spannungsausgleich zwischen Wolke und Erde, aber wie finden diese Gewitterblitze wieder ihren Weg zur Erde?
Ich liebe solche Bücher!!!!
Was war das nun?
von HEYN Leserunde Lieselotte Fieber, 6. Juni 2014
'Anna war die Zeit zwischen den Händen zerfallen' - und so wird die Geschichte auch erzählt: Erinnerungsfragmente fallen aus der Zeit, reihen sich hintereinander, drängen sich vor oder bleiben im Dunkeln. Fast fühlt man sich jedoch wie Anna, durcheinander, auf der Suche nach dem Zusammenhang und dann hocherfreut über gelegentlich erhellende Momente. Das Buch hat mich teilweise sehr verwirrt, trotzdem fesselte mich die Geschichte von Seite zu Seite mehr. Durch die berührende Schreibweise werden die Verwirrungen noch deutlicher und dadurch regt das Werk zum Nachdenken an.
Bildhafte und sensible Sprache
von Manfred Angerer, 6. Juni 2014
Nach einigen Seiten dieses Romanes wurden bei mir zunächst Erinnerungen an 'Small World' von Martin Suter geweckt. Auch dort geht es um das 'Vergessen' als die Demenzerkrankung.
Doch welch ein Unterschied in der Sprache und beim Lesegefühl.
Selja Ahava gelingt es, in mir durch ihre sehr bildhafte und sensible Sprache großes auch emphatisches Verständnis für die Protagonistin Anna in ihrer Erkrankung (oder für den Beginn besser: ihrem Anders-Sein) zu erwecken. Die Autorin kleidet den Begriff 'Vergessen' in wunderschön phantasievolle Sätze, wie 'Bilder, die aus ihren Halterungen sprangen', oder: 'Es gab Tage, an denen sie kaum wusste, wer sie war.'
Die Geschichte selbst hat keinen chronologischen oder von den Abläufen her durchgängigen Handlungsbogen, sondern wirft immer wieder Blitzlichter auf Episoden aus unterschiedlichen Epochen in Annas Leben, offenbar Bruchstücke, an die sich Anna im Zustand der fortgeschrittenen Demenz im Altersheim erinnert.
Das Buch ist sicher keine leichte Kost, beschäftigt es sich doch mit einem Thema, das möglicherweise jeden von uns - wenn wir (hoffentlich) alt genug werden - betreffen kann. Schon die von Selja Ahava verwendete bildhafte Sprache ist ein guter Grund, dieses Buch zu kaufen, bedächtig und genussvoll zu lesen und einfach wirken zu lassen.
"Doch so etwas kam vor."
5. Juni 2014
..."Aber es brauchte nur einen Ausrutscher, einen kleinen Schritt zur Seite, eine Störung, einen Bruch im Eis,..."(S.28) Was kann ein Einbruch im Kontinuum der Zeit bedeuten? Was macht das Bild, der Wal, das kolossale Tier, fernab seines gewohnten Terrains, welche Ordnung wird durcheinander gebracht? Ein Bild für die lähmende Angst, die Angst, die Hoffnung zugleich ist, dass die Gesetzmäßigkeiten des Lebens unterbrochen werden. Dies spiegelt sich auch in dem Filmklassiker "Fitzcarraldo", von Werner Herzog wieder, an welchen ich während der Lektüre von Selja Ahava "Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm" immerzu denken musste. Im Film wird ein riesiges Schiff über einen Berg gebracht, ein ungeheurer Kraftakt, schier unmöglich und doch geschafft.
"Wäre es möglich, Augenblicke einzufrieren, würde ich diesen in eine Plastikdose legen,..."(S.43) Der Tod ist solch eine Ungeheuerlichkeit. Er trifft immer unvorhergesehen, niemals wird tatsächlich mit ihm gerechnet, er fällt ins Leben ein. Unklar muss bleiben, was die Wirklichkeit denn nun ist. Ein Eintauchen in die Poesie der Sprache bedeutet auch ein Abrücken, einen Schritt neben die Welt des Realen. Es ist ein langsames Buch, in welchem die Dinge ihre Ordnung haben und doch birgt es die Schrecklichkeit des Vergänglichen, den Schmerz des Verlustes. Anna webt die Netze der Sprache, Wörter, die sie halten sollen um den Fall zu vermeiden. Und es ist so. In der Sprache findet das Individuum seine Unsterblichkeit, immer wieder, immerzu aufs Neue. Immer wieder muss gegen den unvermeidbaren Tod angeschrieben werden, das Vergessen gebannt werden.. Themen sind Schöpfung, die Erschaffung der Sprache, höchst individuell und doch notwendige Gemeinsamkeit. Anna erschafft, formiert ihre "Kinder". Das nicht Kalkulierbare ist das überaus Lebendige. Der Tod hat sich festgemacht an den alltäglichen Dingen. Jedoch umfassen und umgeben uns die Dinge des Alltags, sie bauen die Welt um uns. So etwas wie Gott ist in der Leere, nicht im vollen Raum. Anna schreibt Listen...Es ist ein wundervolles Buch, mit vielen Facetten, bezaubernd verwirrend !
Ein Leben wie eine Flickendecke
von HEYN Leserunde Nicola Strahl, 4. Juni 2014
Eine sehr emotionale Sprache entführt den Leser in eine Welt, in der es keine räumliche oder zeitliche Orientierung mehr gibt.
Eine Welt, die immer kleiner wird und in der es bald keinen Platz mehr für die Banalitäten des Lebens gibt.
Und so entschwindet Anna immer weiter ihrer Umwelt und dem Leser und kehrt an den Ort zurück, an dem sie am glücklichsten war.
Durchdringend und nachhaltig erzählt!