Inhalt
Kurztext / Annotation
VIELSCHICHTIG, POETISCH, BERÜHREND: Joseph Zoderers frühes Meisterwerk 'Dauerhaftes Morgenrot' neu aufgelegt. 'Er spürte die Wärme, die aus ihrer Haut kam, und doch fröstelte ihn, und es war nicht die kühle Luft, die durch die Schlitze der Fensterläden hereinzog, er wünschte in einem kahlen Raum allein zu sein, er wusste nicht mehr, warum er mit diesem Mädchen hinter geschlossenen Fensterläden stand. Trotzdem strich er mit seiner freien Hand über die Finger, die ihn hielten, bevor er sich aus ihrer Berührung löste.' Von der Sucht nach dem Sehnen Lukas ist einer, der stets getrieben ist und doch nie ankommt. Seine Frau bringt ihn dazu, sie zu verlassen - sie weiß, dass er zurückkommen wird. Er zieht aus, um Johanna zu suchen, die andere Frau, die andere Sehnsucht. In einer fremden Stadt am Meer, in herbstlichen Streifzügen um den Hafen richtet sich sein Sehnen jedoch auf Gianna, in der er seine Johanna zu erkennen glaubt. Doch sowie er sich der Erfüllung seiner Sehnsüchte nähert, zeigt sich: Vielleicht ist die Sehnsucht selbst schon ihre Erfüllung. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit der Liebe Lukas ist sich selbst fremd, und je näher ihm die Frauen kommen, desto fremder werden auch sie ihm. 'Dauerhaftes Morgenrot' erzählt davon, dass Liebe nur möglich ist, wenn das Wünschen nie aufhört: die Sehnsucht danach, dass der Zauber des Anfangs bestehen bleibt, die Sehnsucht nach der Geliebten und die Sehnsucht nach dem Geliebtwerden. Die Verwirrungen von Lieben, Leben und Wünschen beschreibt Joseph Zoderer vielschichtig, poetisch, eindringlich und mit größter sprachlicher Präzision. '... ich habe es natürlich sofort gekauft und in einem Zug durchgelesen. Es hat ja einen ungeheuren Sog und ist das, was Kafka von den guten Büchern verlangt: eine Axt, mit der man gefrorene Seen aufschlägt. Mir hat es tiefe Wunden aufgerissen ....' Brief von Jürg Amann an Joseph Zoderer, Wien, 6. 3. 1987
Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther-von-der-Vogelweide-Preis (2004). Vom Autor des Romans 'Die Walsche' (Neuauflage bei HAYMONtb 2012) erschienen bei Haymon zuletzt: 'Das Glück beim Händewaschen'. Roman (HAYMONtb 2009), 'Die Farben der Grausamkeit'. Roman (2011, HAYMONtb 2014), 'Mein Bruder schiebt sein Ende auf'. Zwei Erzählungen (2012) und 'Hundstrauer'. Gedichte (2013). Seit 2015 wird das Werk von Joseph Zoderer, einem der führenden Erzähler der Gegenwartsliteratur, in Einzelbänden neu aufgelegt. In Zusammenarbeit mit Johann Holzner und dem Brenner-Archiv Innsbruck wird jeder Band durch ein Nachwort sowie interessante Materialien aus dem Vorlass des Autors ergänzt.
Textauszug
Und so fragten sie ihn, fragten ihn hartnäckig, stellte er sich vor, über sein Gefühl aus. Er hätte eine Weile stumm bleiben können, aber eines Tages oder mitten in der Nacht hätte er wohl einmal zu reden begonnen:
Zuallererst von den Hunderten aneinandergekuschelten graublauen Tauben auf dem Platz vor dem Hauptpostgebäude, nur notdürftig geschützt vom Halbkreis einer gestutzten Parkhecke. Ich, sagte Lukas, wollte sie mit ihren ins Gefieder geduckten Köpfen in Frieden lassen, doch einmal mußte ich bei diesem Sturmwind die Diagonale des Platzes durchmessen. Und so schritt ich mitten in den dichten, kauernden Schwarm hinein, den blaugrauen See, gut zwanzig Meter lang und etwas weniger breit, der mir einige Wellenspritzer entgegenwischte; nur wenige, einzelne Tauben flatterten da und dort jäh auf, ich sah einige grellrote Füße und beugte mich mit der Hand an der Hutkrempe vor dem nächsten Windstoß, die Augen halb geschlossen, in den Ohren flatterndes Sausen, so daß ich Lust bekam auf diese Auseinandersetzung und den Platz, den Taubensee, mehrmals, vielleicht dreißigmal an diesem Vormittag, bei Windstärke hundert oder hundertzwanzig über- und durchquerte. Ich kehrte wieder und wieder um, allmählich auch selbst mit den Armen jäh aufflatternd und mit der Zunge zischelnd, so daß die Tauben zu Hunderten wie plötzlich aufgepeitschte Staubwolken mir ins Gesicht flogen, über das ich jedesmal zu spät die Hände hob, sagte Lukas fast buchstabierend. Aber ich erholte mich jedesmal von meinem Schrecken, indem ich, am anderen Punkt der Diagonale angekommen, ruhig und nacheinander ein Bein hob und es jeweils ruhig und langsam schüttelte.
Erst dann warf Lukas wieder einen Blick auf das Taubengewimmel, das mit plusterndem Federzeug erneut zusammenrückte und offensichtlich seine Wiederkehr erwartete.
Aufjauchzend bin ich, wie von Mord zu Mord, schreiend durch sie hindurchgelaufen, wie durch einen Regen aschiger Hostien. Kot und Asphaltdreck, bildete ich mir ein, trieben gegen meine Augen, obwohl kein roter Fuß meine Haare oder mein Gesicht streifte, ich lief immer hastiger hin und zurück, bis ich durch ein Spalier zu rennen schien aus korallenen Augäpfeln und schwarzen Pupillen, sie ließen mir einen grauen Laufkanal mit Wänden aus staubigem blauem Geflatter.
Plötzlich sah ich, sagte Lukas, ganz deutlich das Schwirren einer einzelnen Taube gegen den Wind, ihr Umkippen und Abstürzen und ihr erneutes Aufsteigen mit seitlich gedrehtem silbernem Bauch.
Sie finden mich,
sie verhören mich,
sie lassen mich leben.
Ich wollte Johanna treffen, aber sie weiß nicht, wo ich bin. Daß ich hier warte vor einem Fenster nach Südosten.
Zum erstenmal war Lukas ohne Gepäck in einen Zug gestiegen, und Livias abgestorbenes Lächeln beschwerte ihn nicht.
Er hatte die Bahnsteigunterführung ohne Hast hinter sich gebracht, war weder die Stufen hinunter-, noch die Stufen hinaufgerannt. Er hätte auch auf eine der Eisenbänke springen können, aber es regnete, und so wartete er unter dem Vordach der Unterführung auf das Einfahren des Zuges. Die angekündigte Verspätung freute ihn gerade so, als ob er sich wünschte, noch rechtzeitig aufgehalten zu werden, sie erinnerte ihn an die vielen Verspätungen, die er mit Livia auf diesem Bahnhof erlebt hatte, so daß die kahle Bar zu einem Ort unbeabsichtigter Nähe mit Livia geworden war, wo er ihr jedesmal ein Glas Bier oder Wein aufgedrängt hatte, obwohl sie nichts zu trinken verlangte, außer einmal einen Kaffee. Er fürchtete sich vor keinem Gesicht, die meisten glaubte er schon zu kennen, und von Bahnhof zu Bahnhof war er froh, daß sie allmählich ihre Vertrautheit verloren.
Schon vor den letzten Stationen leerten sich die Sitze, Lukas stand auf und wanderte im Abteil hin und her, schob die Tür auf und zu, blic
Beschreibung für Leser
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