Inhalt
Beschreibung
1.
Ursula Kußmaul hatte die Party verlassen, sie langweilte sich zu Tode. Nur oberflächliches Geplänkel und Dummköpfe mit Profilierungsneurosen, mit denen sie sich gerne gestritten hätte, es aus Rücksicht auf die Gastgeberin aber unterließ. Mit Alkohol wäre das alles vielleicht noch erträglich gewesen – aber ohne? Sie würde gerne ein Glas trinken, aber sie war müde, außerdem musste sie noch fahren. Nachdem Ursula wieder und wieder durch den riesigen Raum gegangen war und nach einem halbwegs normalen Gesprächspartner gesucht hatte, gab sie entnervt auf. Nein, das würde heute nichts mehr werden. Ob es an ihr selbst lag? Es mag möglich sein, dass sie heute schlecht drauf war. Vielleicht war der Tag für sie gelaufen und es war mühselig, sich hier auf Biegen und Brechen amüsieren zu müssen. Sie hatte genug und wollte einfach nur nach Hause.
Ursula suchte nach ihrer Freundin Dagmar, um sich von ihr zu verabschieden. Dagmar schmiss die Party anlässlich ihres vierzigsten Geburtstages, auch wenn die Dekoration eher einem Kindergeburtstag glich, was durch die schrecklich laute Schlagermusik unterstrichen wurde. Wie oft „Atemlos“ lief, konnte Ursula schon nicht mehr zählen. Was fanden alle nur an dem Song, dem sie überall ausgesetzt war?
Dagmar war bester Laune. Sie lachte und schien sich mit den Leuten um sich herum blendend zu unterhalten, was bei dem Lärm schier unmöglich war. Ursula brauchte lange, bis Dagmar endlich verstand. Sie reagierte enttäuscht, was zu erwarten war. Klar versuchte sie, Ursula zum Bleiben zu überreden, aber die blieb stur. Nachdem Dagmar wegen der lauten Musik fast ununterbrochen auf sie einschrie, drehte sich Ursula irgendwann um und ging einfach.
Draußen sog sie die frische Luft der Augustnacht ein, was nach dem heißen Tag und der stickigen Luft im Inneren des Partyraumes eine Wohltat war.
Die Fahrt quer durch Ulm war sehr angenehm, es war kaum Verkehr. Sie lehnte sich zurück und lauschte der ruhigen Musik im Radio, was nach dem fürchterlichen Krach für ihre Ohren wie eine Wellnesskur war. Der heutige Tag war stressig gewesen, auch wenn er perfekt gelaufen war. Die Vernehmung des Täters war reine Routine, der Mann hatte ohne Punkt und Komma geplappert; und zwar viel mehr, als nötig gewesen wäre. Auf die ausführlichen Beschreibungen der Gespräche zwischen Täter und Opfer, die nicht unmittelbar mit der Tat zu tun hatten, hätte sie gerne verzichten können. Trotzdem lief alles wie am Schnürchen. Zum Glück hatte sie Dagmars Geburtstagsparty hinter sich gebracht. Jetzt freute sie sich auf ein Gläschen Sekt und ein paar Pralinen, die im Kühlschrank auf sie warteten.
Sie fuhr auf der Neuen Straße. Schon von Weitem sah sie einen Wagen, der mit weit offenstehenden Türen schräg rechts neben der Fahrbahn stand. Davor stand noch ein Wagen, der ähnlich schief stand und an dem ebenfalls die Türen geöffnet waren. Was sollte das? Auch wenn um diese Uhrzeit nicht viel Verkehr war, war es nicht hinnehmbar, dass hier so chaotisch geparkt wurde. Früher war sie nicht so streng, aber je länger sie ihren Job bei der Polizei ausübte, desto pedantischer wurde sie. Oder lag es einfach nur daran, dass sie schon lange keinen Urlaub mehr gehabt hatte?
Ursula verminderte das Tempo und kam langsam näher. Sie entschied, sich das näher anzusehen und dafür zu sorgen, dass die Fahrzeuge weiterfuhren. Plötzlich tauchte eine Frau auf der Fahrbahn auf und sprang ihr vor den Wagen. Ursula bremste scharf und registrierte erleichtert, dass der Frau offenbar nichts passiert war, denn sie lief einfach weiter. Die Frau versuchte, über die Fahrbahn zu rennen. Konnte es sein, dass sie barfuß war? Was, zum Teufel, war hier los? War das eine Beziehungsgeschichte, wie sie viel zu oft vorkam? Irgendetwas sagte ihr, dass das hier etwas anderes war. Aber was?
Sie stellte ihren Wagen ab, stieg aus, schaltete die Warnblinkanlage ein und ging auf die beiden Fahrzeuge zu.
Bei dem einen handelte es sich um einen schwarzen Geländewagen, der andere war ein gelber Sportwagen, der sicher ein Vermögen gekostet hatte. Noch bevor sie sich die Kennzeichen näher ansehen konnte, stand plötzlich ein Mann vor ihr und versperrte ihr den Weg. Sie beobachtete im Augenwinkel, wie die flüchtende Frau auf der Gegenfahrbahn von zwei Männern eingefangen und gegen ihren Willen in den gelben Sportwagen gesetzt wurde.
Die ganze Situation war unwirklich und Ursula bekam es mit der Angst zu tun. Vermutete sie richtig? Wurde hier eine Frau mit Gewalt festgehalten? Mitten in Ulm? Sie sammelte all ihren Mut zusammen und zog ihren Ausweis aus der Tasche, den sie dem riesigen Kerl vorhielt.
„Kriminalpolizei. Ihre Ausweispapiere bitte.“
Der Riese grinste sie nur an. Dann trat ein anderer an ihre Seite, während der dritte Mann telefonierte. Der Typ sprach nicht laut. Aber wie er sprach, klang überhaupt nicht gut. Der Mann war sicher der Fahrer des Sportwagens, denn rein optisch passte er mit dem dunklen, sportlichen Anzug und der Brille auf dem pomadigen Haar genau dazu.
„Ihre Ausweispapiere, und zwar von allen, wenn ich bitten darf“, wiederholte Ursula laut und versuchte, selbstbewusst aufzutreten.
Aber die Männer lachten nur. Nun kam der Sportwagen-Fuzzi ebenfalls hinzu. Er sah sie nur an, was ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Warum hatte sie überhaupt angehalten? Ihr Chef hatte verboten, irgendwelche Aktionen allein durchzuziehen, zumal sie nicht einmal bewaffnet war. Ihre Waffe lag verschlossen in ihrem Schreibtisch, schließlich konnte sie damit nicht auf der Party auftauchen.
Dann hielt ein Wagen neben ihr. Gott sei Dank – die Polizei! Ursula erkannte die Zivilfahrzeuge der Polizei sofort. Erleichtert versuchte sie, den Kollegen die Situation zu erklären, aber die interessierte das nicht. Sie wurde gepackt und unsanft in den Fond des Wagens gesetzt. Was sollte das? Während beide Kollegen mit dem Sportwagen-Typen sprachen, kramte sie hektisch in ihrer Tasche und suchte nach ihrem Handy. Warum war immer so viel Zeug in ihrer Tasche? Endlich hatte sie das Handy gefunden und wählte die Nummer ihrer Kollegin. Anna ging nach dem ersten Klingeln ran. Ursula konnte ihr gerade noch mitteilen, dass sie offensichtlich verhaftet wurde und dass sie den Chef informieren soll. Dann wurde die Wagentür aufgerissen und einer der Polizisten, der jetzt, wie sein Kollege auch, eine Maske trug, nahm ihr das Handy und die Tasche ab. Als wäre das nicht schon genug, bekam sie auch noch Handschellen und eine Augenbinde verpasst. Das geschah alles so schnell, dass Ursula kaum reagieren konnte. Und dann ging es auch schon los. Der Fahrer drückte aufs Gas.
„Könnt ihr mir erklären, was das soll? Ich verlange auf der Stelle mein Handy zurück. Ich arbeite bei der Ulmer Kriminalpolizei und kann euch so richtig Ärger machen. Glaubt mir, ihr werdet das noch bitter bereuen! Ihr stoppt sofort den Wagen und lasst mich raus!“ Ursula redete und redete, aber beide Männer sagten kein Wort. Sie versuchte es mit Provokationen und Beleidigungen, aber auch das funktionierte nicht. „Könnt ihr mich wenigstens von den Handschellen befreien? Die Dinger schmerzen, ich kann mich kaum bewegen.“ Das entsprach der Tatsache, aber auch hierauf reagierten die Männer nicht. Ursula gab nicht auf. Sie redete unvermittelt weiter, was den Männern immer mehr auf die Nerven ging. Wie lange würde sie brauchen, bis einer der beiden austickte? Und warum trugen die beiden Masken, obwohl sie sie vorhin ohne gesehen hatte? Sie zwang sich dazu, sich jedes Detail der beiden einzuprägen, um sie später identifizieren zu können. Die würden ihr blaues Wunder erleben, wenn sie wieder frei war und sich alles auflöste. Hatten die Männer nicht verstanden, dass sie von der Polizei war?
Nach über einer Stunde Fahrt stoppte der Wagen. Einer der Männer zog sie vom Sitz und schob sie unsanft auf einen harten Untergrund. Dann hörte sie, wie Türen geschlossen wurden. Das war das Heck eines Lieferwagens, ganz sicher. Das Geräusch des Motors, der gestartet wurde, passte genau dazu. Was sollte der Mist? Wo waren sie? Sie konnte wegen der Augenbinde nichts sehen, konnte aber deutlichen Verkehrslärm hören. Sie mussten sich in der Nähe einer vielbefahrenen Straße aufhalten. Wo genau, konnte sie nicht erahnen. Der Lieferwagen fuhr los und sie saß einsam auf dem nackten Boden eines Lieferwagens. Anfangs wurde sie unsanft hin und her geschleudert, dann ging es zum Glück nur noch geradeaus. Ursula bekam es mit der Angst zu tun. Der Wagen auf der Neuen Straße war eindeutig ein Zivilfahrzeug der Polizei – oder irrte sie sich? Waren die beiden Männer keine Polizisten? Waren das Mädchenhändler und sie war in deren Fänge geraten? Warum hatte sie angehalten und nicht Verstärkung gerufen, wie es Vorschrift gewesen wäre? Sie schrie und weinte, schließlich weinte sie nur noch. Die Fahrt ging unvermittelt weiter.
Der Wagen verminderte seine Geschwindigkeit und bog ab, wodurch Ursula erneut unsanft gegen die Wand geschleudert wurde. Wie lange waren sie unterwegs gewesen? Eine halbe Stunde? Zwei Stunden? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Dann hielt der Wagen an und nichts geschah. Was war los? Ursula hörte, wie ein Mann telefonierte und rückte näher, um irgendein Wort aufschnappen zu können. War das einer ihrer Entführer?
„Wir sind kurz vor unserem Ziel. Wir sind…“
„Ich möchte das überhaupt nicht wissen.“
„Wie du willst.“
„Hat euch jemand gesehen? Gab es Komplikationen?“
„Nein. Alles lief nach Plan.“
„Passt gut auf die Frau auf, damit sie keinen Unfug anstellen kann.“
„Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Die Frau ist eine Kollegin. Wir können sie nicht einfach festhalten.“
„Das weiß ich auch! Trotzdem hat sie nicht nur die Fahrzeuge, sondern auch die Männer gesehen. Polizisten haben ein geschultes Auge für Details. Wir müssen verhindern, dass sie plaudert. Und das geht nur, wenn sie aus dem Weg ist.“
„Kannst du mir nicht sagen, worum es geht?“
„Nein, du musst mir vertrauen. Du vertraust mir doch, oder?“
„Selbstverständlich. Du weißt, was du tust.“
„Ich danke dir. In zwei Tagen ist alles über die Bühne und die Gefahr ist vorbei. Dann setzt sie irgendwo in der Pampa aus. Habt ihr darauf geachtet, dass sie euch nicht erkannt hat?“
„Sicher, wir sind keine Anfänger. Trotzdem habe ich Bauchschmerzen bei der Sache. Sie arbeitet bei der Kripo und wird vermisst werden.“
„Lass das mal meine Sorge sein. Ich streue das Gerücht, dass sie in Stadelheim einsitzt. Das wird diejenigen beschäftigen, die nach ihr suchen. Außerdem werde ich die Ulmer Kripo an die kurze Leine legen.“
„Gut. In zwei Tagen melde ich mich wieder.“ Der kurze Moment, in denen die Kollegin ihre Gesichter gesehen hatte, war nicht wichtig. Um eine Beschreibung abgeben zu können, war es zu dunkel gewesen, außerdem ging alles sehr schnell. Und dass die Kollegin telefoniert hat, verschwieg er auch. Was hatte die Frau in der kurzen Zeit schon groß weitergeben können?
2.
Leo Schwartz wurde mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Das ständige Läuten seines Handys versuchte er zu ignorieren, schließlich hatte er Urlaub und den hatte er sich redlich verdient. Seit dem letzten Fall war endlich Ruhe eingekehrt, wodurch er und seine Kollegen nicht nur aufgelaufene Überstunden, sondern auch den Resturlaub der letzten Jahre abbauen konnten. Leo hatte sich zuerst gemeldet und kam den anderen zuvor. Das war zwar nicht ganz fair, aber er war fix und fertig. Er freute sich auf die freien Tage, die er nur mit Schlafen, Lesen und ausgedehnten Spaziergängen verbringen wollte. Er zog die Bettdecke über den Kopf. Dieses verdammte Handy läutete fast ununterbrochen. Wütend sah er auf die Uhr: drei Uhr zweiundvierzig. Was sollte der Mist? Alle wussten, dass er Urlaub hatte. Dann stand er auf und suchte nach seinem Handy, das in der Küche neben der Spüle lag.
„Was?“, schrie er wütend.
„Komm sofort her, wir brauchen dich hier.“
„Christine? Was ist passiert?“ Leo hatte die Stimme sofort erkannt.
„Logisch bin ich es, hast du meine Nummer nicht erkannt?“
Sollte Leo zugeben, dass er nun auch eine Brille brauchte, da die Buchstaben und Zahlen immer kleiner wurden und seine Arme nicht mehr ausreichten, um alles entziffern zu können? Nein, das schien nicht der richtige Zeitpunkt zu sein. Es musste etwas Schlimmes passiert sein, sonst würde ihn seine Freundin und frühere Ulmer Kollegin nicht um diese Uhrzeit anrufen. Die dreiundsechzigjährige Pathologin war im Ruhestand und die beiden sahen sich sporadisch, nachdem sie seit seiner Versetzung ins bayerische Mühldorf am Inn rund zweihundertfünfzig Kilometer trennten.
„Wann bist du hier?“ Für Christine war es keine Frage, ob Leo nach Ulm kommen würde, das stand für sie fest.
„Was ist passiert?“ Leo war hellwach.
„Ursula wurde verhaftet, sie sitzt in Stadelheim in U-Haft. Die Ulmer Kollegen und mein Bruder haben alles versucht, sie da rauszuholen, aber das ist nicht gelungen. Es wurde den Kollegen sogar verboten, sich in die Sache einzumischen. Dir wurde nichts verboten und nur du kannst ihr helfen.“
Christine klang verzweifelt. Leo kannte die Frau schon sehr lange und er hatte sie nur selten so reden hören.
„Willst du mir sagen, dass auch dein Bruder als Ulmer Polizeichef nichts tun kann?“
„Ja. Hast du mir nicht zugehört? Die arme Ursula sitzt hinter Gittern und uns sind die Hände gebunden. Du musst herkommen und ihr helfen. Hol sie da raus, Leo, und zwar so schnell wie möglich.“
„Was, zum Henker, hat Ursula angestellt?“
„Das weiß ich nicht, das weiß niemand. Uns ist lediglich bekannt, dass sie verhaftet wurde und in Stadelheim in U-Haft sitzt, mehr nicht.“
„Ihr kennt die Anklage nicht? Was sagt ihr Anwalt?“
„Es darf niemand zu ihr.“
„Bitte? Das ist gesetzwidrig, das geht nicht.“
„Das weiß ich auch. Mach dich auf den Weg, ich erwarte dich.“
Leo zog sich rasch an und rief seinen Kollegen Werner Grössert an, der als junger Familienvater über den nächtlichen Anruf nicht gerade erfreut war. Als Leo ihm erklärte, worum es ging, war der Ärger rasch verflogen. Auch der einundvierzigjährige Werner kannte Ursula Kußmaul und mochte sie.
„Ich rufe sofort meinen Vater an. Halt mich auf dem Laufenden.“
„Danke, Werner.“
Auch Werners Vater, der Mühldorfer Rechtsanwalt Doktor Wilhelm Grössert, war über den Anruf seines Sohnes erbost. Es dauerte sehr lange, bis er den Grund verstand.
„Du willst mir sagen, dass eine Kriminalbeamtin in U-Haft sitzt und niemand zu ihr darf? Noch nicht einmal ein Anwalt, auf den jeder Bürger ein Anrecht hat?“ Doktor Grössert war mit Leib und Seele Anwalt. Er hasste es, wenn Dinge nicht so abliefen, wie sie laufen sollten.
„Ja. Und niemand weiß, was ihr vorgeworfen wird, noch nicht einmal der Ulmer Polizeichef.“
„Das wollen wir doch mal sehen. Sie sitzt in Stadelheim?“
„Ja.“
„Ich kümmere mich darum und melde mich wieder bei dir. Grüße an deine Frau und meine reizende Enkeltochter.“
Leo fuhr durch die frische Augustnacht. Nach vielen Wochen waren die Temperaturen für Leo endlich wieder erträglich. Er mochte Hitze nicht, zumal er sich regelmäßig einen Sonnenbrand holte. Seit gestern hatte er Urlaub und gerade rechtzeitig hatte es angefangen, zu regnen. Dabei sanken die Temperaturen um über zehn Grad, was für ihn eine Wohltat war.
Es war nur wenig Verkehr und Leo kam rasch voran. Was hatte die verrückte Ursula Kußmaul angestellt? Sie war frech und ihr loses Mundwerk war gefürchtet, das wusste jeder. Aber sie war nicht boshaft und würde nie etwas Ungesetzliches machen, dafür liebte sie ihren Beruf als Polizistin viel zu sehr. Er hatte Ursula während seines letzten Falles in Ulm kennengelernt, bevor er strafversetzt und zurückgestuft wurde. Der Versetzung ging eine missglückte Falle voraus, was er als Leiter der Ulmer Mordkommission auf seine Kappe genommen hatte. Anfangs mochte er die laute, schrille und in seinen Augen verrückte Ursula Kußmaul nicht. Es dauerte nicht lange und er änderte seine Meinung, denn sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck und er konnte sich voll und ganz auf sie verlassen. Der Gedanke, dass mit ihr etwas geschah, das er vielleicht auch nicht verhindern konnte, gefiel ihm nicht. Es musste etwas Gewichtiges vorgefallen sein, sonst hätte zumindest Zeitler als Ulmer Polizeichef seinen Einfluss geltend machen und sie da rausholen können. Und wenn ihm das nicht gelungen wäre, dann hätte er zumindest die Anklage längst auf dem Tisch.
Sonst freute sich Leo schon Tage vorher, wenn er wieder nach Ulm fahren konnte und Zeit mit Freunden und ehemaligen Kollegen verbringen konnte. Aber heute war es anders. Er registrierte kaum, dass er das Ortsschild Ulm hinter sich gebracht hatte, bei dem er sonst immer einen Freudenschrei ausstoß.
Kurz vor sieben Uhr war Leo vor Christines Haus angekommen. Noch bevor er klingelte, wurde die Tür geöffnet.
„Endlich bist du da“, sagte Christine erleichtert und drückte den zweiundfünfzigjährigen Freund an sich. „Komm rein, die anderen warten bereits.“
„Die anderen?“
„Denkst du, ich bin die einzige, die sich Sorgen macht? Selbstverständlich sind Anna, Stefan und mein Bruder auch hier. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns heimlich bei mir zu treffen. Eine Schande ist das!“
Leo betrat das Wohnzimmer. Dort saßen der Ulmer Polizeichef und Christines Bruder Michael Zeitler, die frühere Kollegin Anna Ravelli und Stefan Feldmann, Leiter der Ulmer Spurensicherung und Annas Lebenspartner. Die Begrüßung fiel heute sehr knapp aus, allen war die Anspannung ins Gesicht geschrieben. Die Stimmung war sehr gedrückt, sie machten sich Sorgen.
Leo ließ sich nochmals ausführlich die aktuelle Situation schildern, wobei er nichts Neues erfuhr.
„Die Staatsanwaltschaft hat der Polizei jegliche Einmischung und den Kontakt zu Ursula verboten?“
„Ja, das Innenministerium hat das abgesegnet. Und das ist es, was mir nicht gefällt. Ich zermartere mir das Hirn, was passiert sein könnte, komme aber auf keinen Nenner. Wir wissen alle, dass die Kollegin Kußmaul nicht gerade zurückhaltend ist, aber sie arbeitet immer korrekt.“ Michael Zeitler war am Ende. „Alle Stellen mauern. Offenbar wurde eine Informations- und Kontaktsperre verhängt, die ebenfalls direkt von der Staatsanwaltschaft Ulm kommen muss. Ich kenne den Oberstaatsanwalt Doktor Beilinger persönlich und habe ihn sofort angerufen, leider vergeblich. Er hat einen Termin in Frankreich und ist nicht zu sprechen, ich habe alles versucht.“
„Hat der Mann keine Vertretung?“
„Selbstverständlich. Ich habe mehrmals um ein persönliches Gespräch gebeten, wurde aber nur vertröstet. Man versprach mir, genauere Erkundigungen einzuziehen und sich wieder bei mir zu melden. Ich bin mir sicher, dass ich auf einen Rückruf ewig warten kann. In drei Tagen wird Doktor Beilinger zurückerwartet, dann knöpfe ich mir den Mann persönlich vor. Bis dahin sind wir auf uns allein gestellt.“
„Wie kann ich helfen? Was habt ihr euch vorgestellt?“
„Uns sind die Hände gebunden, wir dürfen in der Sache nichts unternehmen. Man hat mir deutlich mitgeteilt, dass man der Ulmer Polizei auf die Finger schaut und jeden unserer Schritte beobachtet. Ich befürchte sogar, dass unsere Telefone abgehört werden.“
„Das glaube ich nicht, das kann ich mir nicht vorstellen“, rief Leo.
„Als ich die Anweisung bekam, konnte ich das auch nicht fassen. Und wenn ich ehrlich bin, kann ich das immer noch nicht glauben und werde wütend, wenn ich daran denke. Wir sollten diese Anweisung ernst nehmen. Wir müssen höllisch aufpassen, wenn wir uns unterhalten. Wir werden uns außerhalb des Polizeipräsidiums nur heimlich treffen können, was nur bei Christine möglich ist. Ich als ihr Bruder falle nicht auf, wenn ich meine Schwester besuche. Ich fahre meinen Wagen in die Garage und die Kollegen können erst dort aussteigen, so weit sind wir schon!“ Der Ärger war Zeitler anzumerken, er schäumte fast vor Wut. „Ich komme mir wie ein Schwerverbrecher vor, der sich vor der Polizei verstecken muss, dabei gehören wir selbst dazu. Wie krank ist das denn? Aber momentan bleibt uns nichts anderes übrig, als uns so zu verhalten, weshalb ich Christine bat, Sie anzurufen und um Hilfe zu bitten. Wir können nicht tätig werden, Sie aber schon. Wenn ich nur wüsste, in welchen Schlamassel die Kollegin Kußmaul geraten ist, was solch eine Reaktion verursacht.“
„Warum Stadelheim?“
„Keine Ahnung, das verstehen wir auch nicht. Die Staatsanwaltschaft hat uns das ebenfalls nicht erklären können.“
„An welchem Fall arbeitet Ursula momentan?“
„Ich habe alle Fälle der letzten Jahre zusammengepackt und mitgebracht. Der Chef hat dafür gesorgt, dass niemand davon erfährt.“ Anna Ravelli zeigte auf einen Stapel Unterlagen, die auf der Anrichte lagen. Leo kamen diese bekannt vor. Die Farben und die Art der Einbände hatte er vor Jahren selbst eingeführt.
„Gut, die Unterlagen nehmen wir uns gleich vor. Wann habt ihr Ursula zuletzt gesehen?“
„Wir haben gestern einen Mordfall abgeschlossen, der wie im Lehrbuch ablief. Ein Mord aus Eifersucht, der Täter war geständig. Nach dem gestrigen Verhör haben wir den Schriftkram erledigt, gegen dreiundzwanzig Uhr war Feierabend. Ursula wollte noch auf eine Party, dort blieb sie bis kurz nach zwei. Sie hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass man sie verhaftet hat. Das Gespräch brach abrupt ab. Sie bat mich, den Chef zu informieren, was ich natürlich sofort gemacht habe.“
„Ich habe meine Kontakte spielen lassen und habe nach Stunden lediglich die Information bekommen, dass sie nach Stadelheim gebracht wurde und in U-Haft sitzt. Den Rest wissen Sie bereits.“
„Was schlagt ihr vor?“
„Die Party fand in der Goethestraße statt. Ursula ist direkt vom Polizeipräsidium aus dort hingefahren und blieb bis kurz nach zwei, das bestätigen die Handydaten und die Gespräche mit einigen Partygästen. Nach zwei Uhr war Ursulas Handy hier, hier und hier eingeloggt, woraus wir schließen können, dass sie direkt nach Hause wollte.“ Stefan Feldmann zeigte auf der Karte die markanten Punkte. „Sie fuhr auf der Neuen Straße. Zwischen Gänslände und Gideon-Bacher-Straße wurde das letzte Signal aufgenommen, danach nicht mehr. Der Anruf an Anna kam von hier. Vermutlich wurde ihr Handy dann ausgeschaltet.“
„Du meinst, dort muss sie verhaftet worden sein?“
„Keine Ahnung. Ich kann dir nur sagen, wo ihr Handy zuletzt eingeloggt war.“
„Sonst noch etwas? Wenn nicht, fahre ich jetzt in die JVA Stadelheim und spreche mit Ursula.“
„Denken Sie, dass das so einfach geht? Die lassen niemanden zu ihr, vor allem keine Polizisten. Wenn selbst die Familie und ein Anwalt nicht zugelassen werden, dann stehen Ihre Chancen, mit ihr zu sprechen, denkbar schlecht.“ Zeitler schüttelte enttäuscht den Kopf. Hatte der Mann nicht zugehört?
„Warum sollten sie mich nicht zu ihr lassen? Ich arbeite nicht mehr bei der Kripo Ulm.“
„Trotzdem bist du ein Polizist, dein Name ist doch bekannt.“ Auch Christine war über die naive Art ihres Freundes enttäuscht.
„Sie hätten sich früher nicht so viele Eskapaden leisten dürfen, der vermeintliche Ruhm ist jetzt die Quittung dafür“, brummte Zeitler. „Wir haben Sie kontaktiert, damit Sie so diskret wie möglich die Ermittlungen aufnehmen. Es steht außer Frage, dass wir Sie darin tatkräftig unterstützen. Dabei müssen wir selbstverständlich sehr vorsichtig vorgehen. Und damit meine ich vor allem Sie, Schwartz. Sie haben mich früher den letzten Nerv gekostet und ich hoffe, dass Ihnen die bayerischen Kollegen wenigstens etwas die Flügel stutzen konnten. Scherz beiseite. Wenn von Seiten der Justiz so gemauert wird, ist die Sache mit der Kollegin Kußmaul sehr heikel. Ich finde Ihren Vorschlag, mit ihr zu sprechen zu wollen, unter den gegebenen Umständen äußerst dämlich. Dadurch erfährt man doch sofort, dass Sie in die Sache involviert sind und geraten auch auf die Liste derer, die für den Schlamassel verantwortlich sind. Ich vermute, dass an der Sache sehr viel mehr dran ist, wir müssen vorsichtig sein.“
„Gut, dann kein Gespräch mit Ursula. Ich verspreche, dass ich es nicht versuchen werde. Warten wir ab, was der Anwalt erreicht, den ich engagiert habe. Doktor Grössert ist ein harter Hund. Außerdem hat er sehr gute Beziehungen. Ich bin mir sicher, dass er etwas herausfinden wird.“
„Ich verlasse mich auf Sie. Wenn Sie sich nicht daran halten, garantiere ich für nichts. Wir dürfen Frau Kußmaul nicht gefährden. Ich schlage vor, dass wir private Handynummern austauschen und nur darüber kommunizieren. Verfügen alle über ein solches?“
„Ich habe nur ein Diensthandy“, sagte Stefan, der kein Freund der ständigen Erreichbarkeit war. Zeitler griff in die Tasche und übergab ihm ein Smartphone und die dazugehörige Nummer. Alle tauschten die Nummern aus.
„Nur Gespräche und Informationen ausschließlich über diese Nummern. Treffen und Gespräche den Fall betreffend nur unter strengster Geheimhaltung. Außerdem versteht es sich von selbst, dass außer uns niemand eingeweiht wird. Die Sache mit dem Anwalt lasse ich gerade noch durchgehen“, Zeitler sah Leo strafend an. „Wir müssen nach außen den Eindruck erwecken, dass wir uns alle an die Anweisungen halten und uns nicht um die Kollegin Kußmaul kümmern.“
„Ist diese ganze Geheimhaltung nicht völlig übertrieben?“, sagte Leo, woraufhin ihn alle anstarrten.
„Mag sein, dass das so ist. Solange wir nicht wissen, wo Ursula ist und was ihr vorgeworfen wird, werden wir alles tun, was von uns verlangt wird. Hast du verstanden?“ Christine sprach ruhig und sah Leo dabei an.
„Alles klar, ich habe verstanden. Ich mache mich sofort an die Arbeit. Eine Frage habe ich noch: Von wem bekamen Sie Ihre Informationen, Herr Zeitler?“
„Direkt aus der Staatsanwaltschaft vom Stellvertreter Beilingers. Der Name ist Natascha Enzinger.“
„Kennen Sie die Frau?“
„Nicht persönlich. Wenn ich mit der Staatsanwaltschaft zu tun habe, wende ich mich direkt an Doktor Beilinger. Ich werde mich weiter um einen Termin bei Frau Enzinger bemühen. Wenn ich der Frau auf die Nerven gehe, macht sie vielleicht Druck.“
Ursulas Entführer waren nach einer schier endlos langen Fahrt offenbar an ihrem Ziel angekommen, denn der Wagen stoppte und sie hörte zwei Türen zuknallen. Dann wurde eine Tür geöffnet. Die frische Luft strömte bis zu ihr. Ursulas Glieder schmerzten und sie war am Ende. Endlich wurde ihr die Augenbinde abgenommen, als einer der Männer sie unsanft aus dem Wagen zerrte. Ihre Augen reagierten empfindlich auf den Sonnenaufgang. Sie musste sich jetzt zusammenreißen und sich jedes noch so kleine Detail merken. Die Männer trugen abermals Masken, unterschieden sich aber in Statur und Körperhaltung. Der eine war ziemlich groß und hielt sich aufrecht, der andere war klein und leger, auch die Kleidung. Den Lieferwagen sah sie nur aus dem Augenwinkel. Er war dunkel, ein neueres Modell. Mehr konnte sie nicht erkennen. Der kleinere Mann packte sie am Arm und zog sie mit sich. Sie wurde in ein Haus gebracht, dass sie noch niemals vorher gesehen hatte. Es ähnelte einem Bauernhaus, zumindest war vor dem Haus eine Art Trog und ein verwilderter Gemüsegarten, der mit einem defekten Holzzaun umgeben war. Sie befand sich auf dem Land, um sie herum waren nur Felder und Wiesen. Die Gegend sagte ihr nichts. Das waren zu wenige Informationen. Sie drehte den Kopf und wollte das Nummernschild des Wagens lesen, wurde aber von dem zweiten Mann daran gehindert.
„Vergiss es“, zischte der, gab ihr einen heftigen Stoß und versperrte ihr die Sicht.
„Musst du so grob sein?“, murmelte der andere, der das Verhalten völlig überzogen fand. Ursula verlor das Gleichgewicht und er konnte sie gerade noch festhalten, sonst wäre sie vorn über gefallen.
„Halts Maul, das geht dich nichts an“, erwiderte der andere.
Das Zimmer, in das Ursula gebracht wurde, war schlicht und einfach eingerichtet. Sie fuhr mit dem Finger über den Tisch, den eine dicke Staubschicht bedeckte. Sie sah den größeren der beiden Männer an, der nicht darauf reagierte. Die Tür wurde geschlossen. Noch bevor sie sich umsehen konnte, ging die Tür wieder auf. Der größere, vermutlich der Anführer, warf einen Schlafsack auf das Bett und zwei Handtücher auf den Tisch. Dann ging er wieder.
Jetzt war sie allein. Sie öffnete das kleine Fenster und sog die frische Luft tief ein. Ursula hatte freie Sicht auf ein Kornfeld, das sich leicht im Wind hin und her bewegte. Das Wetter würde heute nach zwei Regentagen wieder phantastisch werden, aber das tröstete sie nicht im Geringsten über ihre momentane Situation hinweg. Sie war völlig durcheinander und musste sich sammeln. Das Bett mit der schmutzigen Matratze sah zwar nicht sehr einladend aus, aber in ihrer jetzigen Situation mutete es himmlisch an. Der Schlafsack war neu, daran hing noch das Preisschild eines Ulmer Sportgeschäftes. Knapp hundert Euro hatte der Schlafsack gekostet. Ursula war erstaunt, dass man hier nicht gespart hatte. Sie öffnete den Reißverschluss des Schlafsacks und breitete ihn auf der Matratze aus. Eines der Handtücher rollte sie zusammen, das musste als Kopfkissen reichen. Sie musste dringend aus den Schuhen raus, in denen sie schon viel zu lange steckte. Durch einen Unfall war sie auf orthopädische Schuhe angewiesen, in denen ihre Füße festen Halt fanden. Der kurze Moment der Erleichterung, als ihre Füße endlich frei waren, war rasch verflogen. Die Tür ging auf und einer ihrer Bewacher, der große, brachte Wasser, Brot und Käse, wobei er immer noch eine Maske trug. Wortlos stellte er das Tablett auf den kleinen Tisch am Fenster. Das war der, der sie geschubst hatte, er war ganz sicher der Anführer. Vor ihm musste sie sich in Acht nehmen.
„Ich muss auf die Toilette“, murrte sie, wobei sie sich zwingen musste, nicht auf das Tablett zu starren. Sie hatte keinen Hunger, aber großen Durst.
Der Mann deutete stumm auf die Tür neben dem Schrank und ging wieder. Ursula hörte den Schlüssel im Schloss. Sie stand auf und ging zu der ihr gezeigten Tür, vielleicht gab es aus diesem Raum eine Möglichkeit zu fliehen. Aber sie wurde enttäuscht. Der fensterlose Raum war sehr klein und beinhaltete nur eine Toilette und ein kleines Waschbecken. Sie ging zurück, trank gierig fast die halbe Flasche Wasser und legte sich aufs Bett. Die Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Was sollte das alles?
3.
Nach einem knappen Mittagessen hielt es Leo nicht länger in Christines Haus aus, er musste dringend an die frische Luft. Zeitler, Anna und Stefan waren längst bei der Arbeit, er hatte die Prüfung der Unterlagen irgendwann allein übernommen. Es gab darin nicht den kleinsten Hinweis, der ihn weiterbrachte. Nicht nur die Konzentration, sondern auch das nervöse Geplapper seiner Freundin ging ihm auf die Nerven.
„Wo willst du hin?“
„Ich sehe mir die Stelle an, an der Ursula nach Stefans Angaben verschwunden sein soll.“
„Warte auf mich, ich komme mit.“
„Nein, ich gehe allein.“
Christine schimpfte und jammerte, aber Leo wollte unbedingt alleine sein. Er musste seine Gedanken ordnen, denn es war ihm ein Rätsel, was letzte Nacht mit Ursula passiert sein mochte.
Die Fahrt durch Ulm bei strahlend schönem Wetter konnte Leo nicht genießen, das sonst wehmütige Gefühl blieb heute aus. Der Verkehr war dicht, trotzdem stellte Leo seinen Wagen auf der Neuen Straße einfach am rechten Fahrbahnrand ab, auch wenn das nicht erlaubt war. Einige Autofahrer hupten und regten sich darüber auf. Auch, als er ausstieg und langsam die Straße entlangging. Er konnte nicht wissen, dass nur wenige Meter von seinem Wagen entfernt in der vergangenen Nacht Ursulas Wagen ebenfalls hier stand, der jetzt in einer Garage mitten in Ulm untergebracht war. Da der Verkehr sehr dicht war, musste Leo höllisch aufpassen. Dass sich immer mehr Verkehrsteilnehmer über ihn aufregten, interessierte ihn nicht. Er ging auf und ab und suchte nach dem kleinsten Hinweis, auf das, was letzte Nacht hier geschehen sein könnte. Wie lange er sich hier aufhielt, wusste er nicht, die Zeit verging wie im Flug. Irgendwann rief ihm ein alter Mann von der gegenüberliegenden Seite etwas zu, was Leo nicht verstand. Das war kein Passant, der sich über ihn ärgerte. Der Mann winkte und gestikulierte, was Leo dazu veranlasste, die Straße zu überqueren, was abermals von Verkehrsteilnehmern mit Unverständnis, wilder Gestik und Hupen quittiert wurde. Der alte Mann hatte Leo lange beobachtete, was diesem aber nicht aufgefallen war.
„Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas?“
Der Mann vor Leo war weit über sechzig und ging am Stock. Er hatte ein helles Hemd an und trug eine Baskenmütze, was zu der kleinen, untersetzten Figur sehr gut passte.
„Es könnte sein, dass ich etwas suche. Ich interessiere mich für Geschehnisse der letzten Nacht.“ Leo sah den Mann an. So, wie dieser reagierte, war er bei ihm genau richtig.
Der alte Mann zögerte. Sollte er ihm wirklich sagen, was er heute Nacht beobachtet hatte? Leo zog seinen Dienstausweis und hielt ihn dem Mann vor.
„Kriminalpolizei?“
Leo nickte nur und steckte seinen Ausweis rasch wieder ein. Dass darauf nicht Ulm, sondern Mühldorf am Inn stand, hatte der Mann zum Glück nicht bemerkt.
„Ich wohne dort hinten in dem gelben Haus. Meine Wohnung liegt im vierten Stock links. Nachts kann ich nicht schlafen, die Schmerzen in der Hüfte sind oft kaum auszuhalten“, schrie er, denn ein lauter LKW machte eine Unterhaltung auf normalem Niveau schier unmöglich.
Leo wurde hellhörig. Hatte er richtig verstanden?
„Sie haben heute Nacht etwas beobachtet?“
„Ja.“ Der alte Mann schien erleichtert, denn das, was er gesehen hatte, ließ ihm keine Ruhe.
„Unterhalten wir uns irgendwo in Ruhe.“
„Dort hinten, gleich ums Eck, ist ein Café.“
„Gehen wir.“
„Was ist mit Ihrem Wagen? Der darf dort nicht stehen.“
„Das weiß ich. Gehen wir.“
In dem Café war nicht viel los. Leo kannte diese Lokalität nicht, er würde auch nur sehr ungern freiwillig in diesen Spießerschuppen gehen. Die Einrichtung war aus den siebziger Jahren und war stark abgenutzt. Im Hintergrund lief Schlagermusik, die zwar momentan wieder sehr angesagt, Leo aber völlig fremd war. Er konnte sich mit dieser Musik einfach nicht anfreunden. Er liebte handgemachte Rockmusik, die seiner Meinung nach viel zu selten gespielt wurde.
Der alte Mann stellte sich als Konrad Häberle vor. Er war Rentner, verwitwet und hatte keine Kinder. Leo bestellte Kaffee. Um das Eis zu brechen, plauderte Leo über banale Dinge, auch wenn er dafür eigentlich keine Zeit hatte. Aber die musste er investieren, denn Herr Häberle war sehr wortkarg, seit sie hier waren. Hoffentlich hatte er es sich nicht anders überlegt.
Häberle war tatsächlich am Überlegen, ob es so klug sei, mit der Polizei über das zu sprechen, was er beobachtet hatte, schließlich war seine Rolle dabei nicht ganz astrein. Zeit seines Lebens lebte er eher zurückgezogen und gehörte nie zu den mutigsten Menschen. Je länger er sich mit Herrn Schwartz unterhielt, umso mehr änderte er seine Meinung und entschied, doch zu sprechen, auch wenn das noch so absurd klingen sollte.
„Was haben Sie heute Nacht gesehen?“, preschte Leo hervor.
„Sie werden mich für schwachsinnig halten.“
„Nein, das werde ich nicht, versprochen.“
„Gut, wie Sie meinen. Ich konnte wegen der Schmerzen wie so oft nicht schlafen. Also ging ich ans Fenster und nahm mein Fernglas, das ich mir zur Pensionierung geleistet habe. Sie denken jetzt sicher, dass ich einer von den Spannern bin, die nach jungen Mädchen Ausschau halten, aber das bin ich nicht, Ehrenwort!“
Leo glaubte dem Mann kein Wort. Er mochte neugierige Spanner nicht, aber in diesem Fall musste er sich zurücknehmen. Er war nur daran interessiert, was der Mann heute Nacht gesehen hatte, deshalb forderte er ihn mit einem Lächeln auf, fortzufahren.
Häberle kam ein Stück näher und senkte die Stimme.
„Ein Sportwagen hat auf der Neuen Straße angehalten, der ihm nachfolgende Geländewagen auch. Eine Frau ist aus dem Sportwagen gesprungen und lief über die Fahrbahn, dabei wurde sie beinahe von einem Kleinwagen überfahren. Sie können sich nicht vorstellen, wie erschrocken ich war, als ich die Szene beobachtet habe. Nur um Haaresbreite hatte der Wagen die Frau nicht erwischt. Die Frau lief einfach weiter, aber einer der Männer aus dem anderen Wagen hatte sie schnell eingeholt. Wenn sie mich fragen, wollte die Frau einfach nur weg. Aber barfuß hatte sie wohl keine Chance. Dann hielt der Kleinwagen. Der Fahrer kam mir komisch vor, der sah aus wie ein Mönch. Er trug eine lange, weite Kutte, wozu der Hut irgendwie nicht passte. Aber ich kenne mich mit der katholischen Kirche nicht aus, ich war mein ganzes Leben Protestant.“
Leo war sofort klar, dass dieser vermeintliche Mönch Ursula gewesen sein muss. Seit er sie kannte trug sie verrückte Klamotten und Hüte, die in seinen Augen nie zusammenpassten.
„Was ist dann passiert?“
„Die Flüchtende wurde eingefangen und in den Sportwagen gesetzt; wenn Sie mich fragen, nicht freiwillig. Dann kam ein weiterer Wagen und der Mönch wurde in den Wagen gesetzt. Ebenfalls nicht freiwillig, der Mönch hat sich ordentlich gewehrt. Für einen kurzen Moment dachte ich, dass das eine Frau sei, aber dafür habe ich einfach zu wenig gesehen. Der Sportwagen brauste mit hoher Geschwindigkeit davon. Dann fuhr der Wagen mit dem Mönch weg, zeitgleich mit dem Geländewagen. Das alles hat keine zehn Minuten gedauert. Etwa zwanzig Minuten später stoppte eine dunkle Limousine. Der Beifahrer stieg aus, setzte sich in den Kleinwagen des Mönches und beide Fahrzeuge fuhren davon.“ Konrad Häberle machte eine kurze Pause und lehnte sich zurück. „Verrückte Geschichte, nicht wahr? Wenn ich das alles nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es selbst nicht glauben. Ich wollte die Polizei informieren, habe mich aber nicht getraut. Was hätte ich erzählen sollen? Diese irre Geschichte hätte mir die Polizei niemals geglaubt.“
„Konnten Sie ein Nummernschild erkennen? Die Farben der Fahrzeuge?“
„Nein, so gut ist mein Fernglas nun auch wieder nicht. Außerdem war es dunkel, wie hätte ich da Farben erkennen sollen? Der Sportwagen war hell, ebenso der Kleinwagen. Die beiden anderen waren dunkel, mehr konnte ich nicht erkennen.“
„Dass die Frau keine Schuhe trug, darin sind Sie sich sicher?“
„Ganz sicher. Die Frau rannte über die Fahrbahn, wobei sie fast von dem Fahrzeug des Mönches angefahren wurde. Zum Glück hatte der schnell reagiert. Im Scheinwerferlicht des Kleinwagens konnte ich deutlich erkennen, dass die flüchtende Frau keine Schuhe trug.“
„Können Sie die Personen genauer beschreiben? Bitte versuchen Sie, sich zu erinnern. Jedes Detail kann für die Polizei enorm wichtig sein.“
„Ich habe mich auf die flüchtende Frau konzentriert, die für mich im Fokus stand. Ich hatte Angst um sie. Sie schien mir sehr jung zu sein. Es sah für mich so aus, als hätte sie nicht viel an. Sie hatte langes Haar, in dem Punkt bin ich mir sicher. Bei den anderen Personen muss ich leider passen, ich habe vor allem auf die junge Frau geachtet.“
Leo hatte genug gehört. Wenn das stimmte, was Konrad Häberle von sich gab, suchten sie nach einem hellen Sportwagen. Wie hoch waren die Chancen, den zu finden? Leo bedankte sich, dann ging er zurück und setzte sich in seinen Wagen. Er rief Zeitler an.
„Wie glaubhaft ist der Zeuge?“
„Ich glaube ihm, zumindest den Kern der Geschichte.“
„Jetzt sollen wir nach allen hellen Sportwagen suchen? Mit welchem Kennzeichen?“
„Das ist sinnlos. Ich dachte an Geschwindigkeitsüberwachungen, denn laut Aussage des Zeugen fuhr der Sportwagen sehr schnell davon. Mit viel Glück könnte er irgendwo geblitzt worden sein. Wenn ich mich an meine Anfänge im Polizeidienst zurückerinnere, werden nachts kaum Blitzer aufgestellt. Es sei denn, es handelt sich um brisante Stellen. Wie viele fest installierte Blitzer gibt es entlang der Neuen Straße?“
„Für die drei Kilometer gibt es nur eine. Ich werde sofort veranlassen, dass die Fotos ausgewertet werden.“
„Wir sollten uns nicht nur auf diese Bilder konzentrieren, sondern alle Fotos, die in Ulm und um Ulm herum in der letzten Nacht gemacht wurden. Sollte der Fahrer tatsächlich auffällig geworden sein, finden wir ihn vielleicht auf diese Weise.“
„Sie haben es noch nicht verlernt, mir Anweisungen zu geben.“ Zeitler musste lachen, denn auch früher konnte sich Leo nur schlecht darin zurückhalten, seinem Chef gute Ratschläge zu erteilen. „Gute Arbeit, Schwartz. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich befürchtet, dass sie in der oberbayerischen Idylle weich und ruhig geworden seien. Ich melde mich bei Ihnen.“
Leo legte schmunzelnd auf. Das war das höchste an Lob, was er von Zeitler zu erwarten hatte.