Inhalt
Beschreibung
»Nein, diese Dinger gibt’s schon lange nicht mehr in Wien.« – Wäre diese Antwort bei einer Straßenbefragung, wo sich denn die nächstgelegene Personenwaage befände, nicht die wahrscheinlichste? Doch was für ein Irrtum! Denn immer noch befinden sich mehr als 100 Waagen (deren erste im Jahr 1887 aufgestellt wurde) an Straßenbahnhaltestellen, Verkehrsknotenpunkten und in zahlreichen Parks der Wienerstadt.
Robert Musils Satz, dass nichts »unsichtbarer wäre wie Denkmäler«, gilt jedenfalls auch für diese ominösen Personenwaagen, »diese komischen säulen, die wie ihrer bestimmung fremd gewordene totems herumstehen« – so Fritz Ostermayer, im Vorwort zu einem von der schule für dichtung realisiertem online-Projekt, geleitet von Rosa Pock: Auf der Basis einer umfassenden Fotoserie von Andreas Urban wurden Studierende aufgefordert, die in diesen Fotografien enthaltenen Geschichten aufzuspüren und sich von diesen Geschichten zu poetischen Texten inspirieren zu lassen. Ergänzt wurden diese Texte durch Beiträge von arrivierten Schriftstellern, die dieser Schule als Lehrende gerne zur Verfügung stehen: FALKNER, Hans-Peter Falkner, Antonio Fian, Bodo Hell, Markus Köhle, Barbi Markovic, Friederike Mayröcker, Ernst Molden, Judith Nika Pfeifer, Rosa Pock, Sophie Reyer, Tex Rubinowitz, Gerhard Rühm und Julian Schutting.
Irgendwann werden diese in Wien noch zu findenden, aber kaum noch genutzten »wuchtigen« Waagen (die Gewichtskontrolle hat sich dank der in fast jedem Haushalt anzutreffenden Badezimmer-Waagen diskret ins Private zurückgezogen) tatsächlich verschwunden sein. Dieser Text-Bild-Band möchte dem Ablaufdatum von »wiens eigenartigstem stadtmöbel« die ihm zustehende Poesie bewahren.
Textauszug
»Die Objektophilie richtet sich auf unbelebte Gegenstände, unterscheidet sich aber vom Fetischismus dadurch, dass das Objekt nicht nur als Stimulanz dient, sondern als Eigenständiges, quasi-personelles Gegenüber wahrgenommen und als anziehend empfunden wird. (…)
Wenn nun mich jemand mal im Bett mit einer Waage erwischen sollte, habt Erbarmen, übt Milde, denn auch ich bin ja nur ein Animist, der gegen Dinge toleranter als gegen Menschen ist, und die Waage, insbesondere die Personenwaage im öffentlichen Raum, auf sie steigt keiner mehr, daher mein Mitleid, sie hat eine personifizierte Form, Kopf, schlanker Körper, breiter Fuß, und sie spricht, indem sie uns eine Antwort gibt, wenn wir uns auf sie stellen. Und so einsilbig ist sie gar nicht, wie man denken könnte, mal mahnt sie mit einer hohen Kilozahl, mal lobt sie, wenn wir unser Gewicht gehalten haben. Aber eines tut sie nicht: lügen.«