Angekommen im Dazwischen
von StefanieFreigericht, 25. September 2016
"Irgendwann ?[hat jeder] den Punkt erreicht, wo jedes Leben dem anderen zu gleichen beginnt, jedes ein ähnlich mickriges wird, aber keines mickrig genug, und jedes sowohl zu lang als auch zu kurz." S. 7 So erzählt es der Ich-Erzähler dem Leser, spricht ihn häufig direkt an "Eigentlich wollte ich, bevor ich die Wohnung verließ, Sarahs Nachtlicht löschen, wie ich es tagsüber immer tat, aber das habe ich in der Aufregung vergessen. Ich bitte Sie, schalten Sie das Lichtchen für mich ab. Ein kleiner Schiebeschalter an der rechten Seite, Sie werden ihn finden." S. 9f Der Mann, der hier mit mir spricht, heißt Gerold Ebner - das erfahren wir erst auf Seite 20, der Name wird selten wiederholt, er scheint nicht wichtig zu sein. Wir beobachten ihn bei einer Bergtour samt ihrer Vorbereitungen, zielgerichtet, geordnet, ohne Hast - fokussiert. Er besteigt den Bocksberg in Österreich, im Vinschgau - und dort, am Rand zum Abgrund, beginnt er, sein Manuskript zu schreiben. Das, was da stattfindet, ist eine Art schriftgewordener Meditation, ein Geständnis, eine Beichte.
Die Sprache ist bildhaft "Ab einer gewissen Höhe frisst das Weiß des Himmels das Grün von den Berghängen, enden Wiesen und Bäume, nur karge Schotterflächen ziehen sich noch weiter hinauf zu den der Sonne entgegengestreckten Gesteinsglatzen." S. 20 Die Geschichte zieht mich in ihren Sog, lässt mich hinterher atemlos zurück ? begeistert von der Erzählweise, aber herausgefordert von der Geschichte Gerold Ebners.
Gerold - der Herrscher mit dem Speer, geboren 1969, Sohn einer ehemaligen Prostituierten, die sich für dieses Kind entschieden hatte, danach fromm im Kloster arbeitet. Sie ist Südtirolerin. Wir lesen über die ausgrenzende Siedlung der Landsleute, die es seit dem Pakt zwischen Hitler und Mussolini vielfach in Österreich gibt. Es gibt Bandenkriege unter den Jungs, wilde Mutproben, Freundschaften. Die Jobs, die es für die Jungs von dort gibt, sind selten gesund für sie. Wir lesen von Gerolds Tätigkeit als Schriftsteller, seinem Versagen dabei, den Aushilfsjobs. Wir lesen über den Tod.
Autor Hans Platzgumer platziert so einige Besonderheiten in diesem Roman, wie ein hineingemogeltes alter ego "Hansi Platzgummer" (laut Wikipedia ist "Johann Platzgummer" der Geburtsname des Autors), Musiker, in New York als Musiker tätig gewesen (beides wie der Autor). Ein bisschen "meta", aber noch originell. Wir lesen von Schrödingers Katze und weitere Erörterungen über Physik, alle Kapitel beginnen mit "Hitotsu", erstens, wie die Grundsätze des häufig bemühten Karate, bei denen alles gleich wichtig ist - aber da sind wir noch nicht im Ansatz am Kern der Geschichte.
Gerold Ebner sitzt auf dem Berg und legt eine Beichte ab. Er stellt zur Diskussion, wann es gerechtfertigt ist, einen anderen Menschen zu töten. Dabei ist Sterbehilfe, eingefordert vom Jugendfreund, nur eines - Ebners Darstellungen des Erstickens eines Menschen erinnern mich irgendwie an den Hitchcock-Film "Torn Curtain" in ihrer Dauer und Vehemenz (auch wenn dort erwürgt wird). Der Leser bekommt Fragen aufgeworfen zu (unterstütztem) Selbstmord, zu Liebe, Ausbrechen aus Gewohnheiten, Familie. Ein Roman, den man erst einmal sacken lassen muss, wenn klar wird, welche verschiedenen Kulminationspunkte die Andeutungen im Verlauf der Geschichte finden.
Am Rand von Hans Platzgummer
von Evelyn , 20. August 2016
Hans Platzgummers (übrigens auch ein Pseudonym, wenn auch nur leicht vom bürgerlichen Namen abgewandelt) Roman Am Rand hat es in sich. Am Ende der Erzählung angelangt, müsst man wohl wieder von vorn beginnen, um die Hinweise richtig zu deuten und die Zusammenhänge von Beginn an zu erkennen.
In dem Roman geht es nicht – wie vielleicht von einigen vermutet – um das Bergsteigen (zumindest nicht vordergründig). Ich persönlich dachte, der Protagonist Gerold Ebner würde wohl am Berg ein paar Menschen zum Tod verhelfen. Nein, all das passiert in der Südtirolersiedlung, in der der Halb-Südtiroler aufwächst. Gerold erzählt in der Ich-Form von seinem Leben, als Kind und als Erwachsener, als Kurzzeit-Vater, als Schriftsteller und Bauarbeiter oder Getränkelieferant. Er erzählt von Mutproben, wie das waghalsige Kacken von einem Baukran bis zu nicht mehr aufhörendem Sex mit seiner Liebe im Maisfeld. Das zentrale Motiv des Romans ist aber der Tod, der ihm im Leben immer wieder begegnet und an die Grenzen seiner Existenz treibt. Dabei leistet er, wenn man so will, Sterbehilfe – dessen Berechtigung aber nicht weiter diskutiert wird. Offiziell ist er höchst kriminell unterwegs, wenn auch alles sehr nüchtern geschildert wird. Gerold, der seine Biografie an einem Tag am Bocksberg niederschreibt, gliedert sie in verschiedene Lebensetappen, die alle gleich wichtig sind; deshalb lautet der Titel jedes Kapitels Hitotsu. Erst mit der Zeit wird klar was es mit dem Begriff auf sich hat, dass er aus der Sportart Karate stammt und so viel wie „Erstes“ bedeutet. In dem Video, das ich unten verlinkt habe, wird übrigens sehr deutlich, dass Hans Platzgummer die Regeln der Kampfsportart perfekt in der Ursprungssprache aussprechen kann (beeindruckend!).
Sehr spannend am Erzählstil des Romans sind die Passagen in denen der Ich-Erzähler direkt zu uns spricht. „Ich bin kein Monster. Wenn Sie sich ein Urteil über mich bilden, vergessen Sie nicht, dass es nicht gerecht sein kann, weil über andere zu urteilen bloß selbstgerecht ist.“ (Platzgummer 2016, S. 123) Am Ende sind wir diejenigen, die sein Manuskript am Bocksberg gefunden haben und gerade lesen und den letzten Schritt müssen wir uns auch vorstellen. Mit tragisch lässt sich die Handlung sehr gut beschreiben!
Ein wahnsinns Roman eines Musikers oder Multitalents, erschienen in einem mir bisher noch unbekannten Verlag. Unter diesem Link findet ihr noch ein ausführliches Interview des Bayrischen Fernsehens mit Hans Platzgummer – die Aufforderung des Moderators am Ende würde ich auf jeden Fall jedem/r ans Herz legen.
Einmal gelesen, müssen wir die Frage, ob er ein Mörder ist, selbst beantworten. Der Roman tut es nicht.
Zum Autor:
Hans Platzhummer ist eigentlich ein Innsbrucker, der in jungen Jahren nach Amerika ausgewandert ist und dort Teil der Band H.P. Zinker war. Heute lebt er in Bregenz und macht mit seinem Freund Chris Lane aus Amerika Musik unter dem Namen Convertible.
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"Am Rand" und ins Zentrum der menschlichen Existenz getroffen
von HEYN Leserunde Petra Hesse, 24. Mai 2016
"Am Rand" - knapper kann ein Roman kaum betitelt sein. Ebenso lakonisch und frei von Sentimentalitaet verfaehrt auch das Erzaehlen: von einem Leben, das von Geburt an marginalisiert ist, chancenlos, bildungsfern und v.a. ohne ueberzeugenden Anschluss an die Gesellschaft, an deren Rand es sich abspielt. Entscheidungen faellt der Ich-Erzaehler für sich allein, die Verantwortung für einen (befreienden) Mord und eine Toetung auf Verlangen traegt er allein, die Entfuehrung (?) eines weggelegten Kleinkindes verantwortet er gemeinsam mit seiner Lebensgefaehrtin, die sich wie er aus familiaeren und gesellschaftlichen Bindungen geloest hat. Erst, als auch diese letzte Beziehung zu Frau und (Nicht-)Tochter bei einem Bergunfall buchstaeblich wegbricht, entschließt sich der Ich-Erzaehler zur Rechenschaft vor einem unbekannten Leser in der Zukunft und zum letzten Schritt ueber den Abhang, den er selbst schon nicht mehr beschreiben kann. Das indiviuelle Schicksal gewinnt in diesen letzten Aufzeichnungen die Dimension DES menschlichen Lebens schlechthin, "weil es des Menschen Pflicht ist, nicht aufzugeben, aber immer wieder erreiche ich den Punkt, an dem die Selbstbestimmung endet" (S. 206). Ein grandios erzählter, ebenso überzeugender wie verstörender Roman!
Intensive Tiefe
19. Mai 2016
? Am Rand stehen, in die Tiefe blicken und die Gedanken, die da kommen, festhalten, um sie mit anderen zu teilen, um die intensiven und tiefgehenden eigenen Gedanken und die eigene Geschichte anderen, den Lesern, mitzuteilen - dieses Bild steht am Anfang und am Ende eines sprachlich wunderbaren Buches über einen Mann, der aus Liebe zwei Menschen getötet hat, einmal, um die Mutter vom Großvater zu befreien, einmal um den Freund von sich selbst zu erlösen. Es ist ein sehr trauriges Buch, ein sehr fesselnder und in die Tiefe gehender Roman, der mich beim Lesen mitzieht und intensive Einblicke in das Innere des Protagonisten zulässt. Gerold als Ich-Erzähler ist unausweichlich in seine Biografie geworfen und muss damit leben. Unausweichlich wie das Ende. Ein sehr gutes Buch, ich will unbedingt auch die anderen, früheren Werke Hans Platzgummers lesen. Und freue mich auf seine weiteren Veröffentlichungen.
Sehr berührend und zum Greifen nahe
von Manfred Angerer, 19. Mai 2016
Eine sehr schöne, aber auch bedrückende Geschichte aus dem Milieu einer ?Südtiroler Siedlung? in Vorarlberg. Das ?Wirtschaftswunderland? aus dem Blickwinkel des Protagonisten, der nie eine tiefe emotionale Beziehung zu seiner Mutter bekommen konnte; wen wundert es, bei dieser Vorgeschichte. Der Vater selbst ist unbekannt.
Sein Leben entwickelt sich von der Kinderbande über Karate und Gelegenheitsjobs in eine dauerhafte Beziehung zu einer sehr selbst bestimmten aber in sich gekehrten jungen Frau, die allerdings kinderlos bleibt, bis der Zufall ihnen in Frankreich ein Findelkind zuspielt das sie ohne Rücksicht auf die Bürokratie mitnehmen und in ihr Leben integrieren.
Der Roman zeichnet ein für mich sehr gut nachvollziehbares eher bedrückendes Bild emotionaler Einsamkeit vieler Menschen im Vorarlberg vor der Jahrtausendwende, vor allem derer, die aus den Südtiroler Siedlungen stammen, dort aufgewachsen sind und kaum oder nur sehr schwer Anschluss an echte Vorarlberger bekommen haben. Er ist auch voller Überraschungen, teils sehr bedrückender Art, aber ohne zu erdrücken. Die Geschichte ist für mich als gebürtigen Vorarlberger gut verständlich, sehr vieles spiegelt das Stimmungsbild, das ich von den 70er Jahren im Ländle hatte, sehr gut wieder.
Rolf Dobelli schildert in ?Massimo Marini? das Schicksal eines Gastarbeiterkindes aus Süditalien in der Schweiz, das geprägt war vom Migrationsbestreben, ein besserer Schweizer zu werden und Karriere zu machen, wohl auch gefördert von einer intakten Familie. Hans Platzgumer beschreibt in ?Am Rand? auch ein Migrationsschicksal, aber von der Ausgangslage von Wirtschaftsflüchtlingen aus dem damals armen Südtirol in den wohlhabenderen Norden, die vermutlich wegen der emotionalen Verarmung keine guten Chancen hatten.
Die Sprache erscheint mir anfangs etwas holprig, wird aber mit der Fortdauer des Eintauchens in die Geschichte immer stimmiger.
Mir hat das Buch sehr gut gefallen, was vielleicht auch mit meiner Herkunft aus Vorarlberg zusammenhängen könnte.
Nicht gegoogelt, sondern erlebt
von HEYN Leserunde Barbara Lichtenegger, 19. Mai 2016
Diese Ich-Erzählung führt mich an die Ränder eines Lebens und schließlich bis zum Rand eines Abgrundes am Gipfel des Bocksbergs.
Und schon bald nach Beginn der Erzählung frage ich mich: Ist dies eine tatsächliche, eine erlebte oder eine erzählte Geschichte? "Was immer wir erinnern, wir haben es nicht gegoogelt, sondern erlebt" stellt der Autor Hans Platzgumer fest (S. 51).
Die Erinnerungen an sein Leben, in einem Tag am Rande eines Abgrundes am Bocksberg niedergeschrieben, ergreifen von mir Besitz. Den letzten Schritt dieses Lebens überlässt der Autor meiner Fantasie ...
Schritt für Schritt zum Abgrund
von HEYN Leserunde Renate Pfeiffer, 18. Mai 2016
Auf einem steilen Felsen, im Schatten des Gipfelkreuzes, schreibt Gerold Ebner auf, was ihn hierher, an den Rand des Abgrunds geführt hat.
Ausführlich und detailgenau, er selbst nennt es präzise, erzählt er von seinem Leben. Er ist das Kind vertriebener Südtiroler, aufgewachsen ohne Vater, zu Hause in einer Siedlung am Rand des Dorfes, in mehrfacher Hinsicht also ein Außenseiter. So geht er auch sonst seinen eigenen Weg, an die Grenzen des Erlaubten und darüber hinaus. Seinen Großvater bringt er um, weil er die Mutter von ihm befreien will, einem Freund leistet er Sterbehilfe. Schließlich verliert er durch einen Unfall die beiden Menschen, die ihm sein Glück bedeuten ? er ist wieder einen Schritt näher am Abgrund. Also steigt er zuletzt auf den Gipfel des Bocksberges und schreibt von Sonnenaufgang bis zum Dunkelwerden seine Geschichte auf.
Sie liest sich durchaus spannend, in einem Stil, der nichts künstlich dramatisiert, klar und poetisch. Diese Erzählweise gefällt mir gut, trotzdem bleibt mir Gerold Ebner fremd, bei allen Schicksalsschlägen bleibt eine gewisse Distanz. Vielleicht liegt es daran, dass ich keineswegs, wie angeblich jeder Südtiroler, bei einem Berg immer auf den Gipfel muss, und Abgründe mich auch nicht magisch anziehen.
(Zum Glück für die Geschichte war es aber nicht ich, sondern der Platzgumer Hans, der das Manuskript gefunden und vom Berg mitgebracht hat. Und sein Name steht deshalb jetzt auch als Autor auf dem Buch)
Fesselnd!
von HEYN Leserunde Lieselotte Fieber, 18. Mai 2016
Die Bilanz eines Lebens: Gelegenheitsarbeiten, geplatzte Träume und alles wird vom Tod geprägt. Ein erstaunlich packendes Buch, fesselnd bis zum Schluss, schildert der Ich-Erzähler die Ereignisse, die ihn schließlich auf den Berg und an den Rand des Felsens geführt haben.
Das Buch wirkt wie eine Gebrauchsanweisung für einen Mord
von HEYN Leserunde Ewa Wiercinska, 18. Mai 2016
Mit lyrischer Phantasie erzählt Gerold Ebner seine Geschichte. Er kann das Erlebte nicht fassen und will auch nicht für seine Sinneserfahrungen die Verantwortung übernehmen. Er lässt den Leser selber entscheiden, bin ich ein Mörder oder ist das Töten eine Mutprobe?
Gerolds Kinder-, Jugenderinnerungen voll mit Phrasen sind spannend, haben einen Sinn. Die Beschreibungen der Sterbehilfe sind bieder und abgeschaut von Josef Hader Filmen.
Hans Plazgumer schreibt (Seite 75) über das ?ungeschriebene österreichische Gesetz men first folgend - stets im Schatten ihres Mannes?. Ist das der Grund, warum Gerold seine österreichische Freundin sterben lässt, weil sie ihm auf dem Klettersteig nicht folgen wollte??
Ungeheuerlich
von HEYN Leserunde Erika Liebminger, 18. Mai 2016
Am Rand eines Abgrundes steht ein Mann um mit einem einzigen Schritt sein Leben zu beenden, nicht ohne vorher festzuhalten, wie es dazu gekommen ist. Und er erzählt von seinem tristen Leben. Von seiner Mutter, einer ehemaligen Prostituierten und der Sprachlosigkeit, die zwischen ihnen herrscht. Von seinem Leben als Jugendlicher, das vorwiegend auf der Straße stattfand und vom ersten Toten, den er zu sehen bekommt. Vom Großvater, den er erstickt weil er seiner Mutter lästig wird und von seinem verunglückten Freund, den er von seinen Qualen erlöst. Er erzählt von der Liebe zu einer Frau und zu einem Kind, das sie einfach aus einem Hotel in Frankreich mitgenommen haben und wie beide bei einer Bergwanderung ums leben gkommen sind. Platzgumer beweist mit diesem Roman auf unnachahmliche Weise, wie man Nähe und Distanz zugleich ausdrücken kann. Eine Lebensbeichte am Rande eines Abgrunds - trocken, emotionslos und ungeheuerlich.